- Troubadours und Trouvères
- Troubadours und TrouvèresUm 1100 legte Wilhelm, Graf von Poitiers, neunter Herzog von Aquitanien, die ersten Troubadourdichtungen in altprovenzalischer Sprache vor. Sie weisen bereits einen so hohen Grad an künstlerischer Vollkommenheit auf, dass sie nur den Endpunkt einer langen Entwicklung darstellen können, die sich verborgen, mündlich, vollzog.Aber was wissen wir von der volkssprachlichen romanischen Lyrik, die vor Wilhelm IX.entstand, wenn sie nicht schriftlich überliefert wurde? Da beklagten sich zum Beispiel geistliche Autoritäten im 6. und 7. Jahrhundert, dass die einfachen Leute, Männer wie Frauen, wahrscheinlich beim Tanzen Liebeslieder sangen, die offensichtlich manchmal auch unanständig waren. Da verbot Ende des 8. Jahrhunderts Karl der Große den Nonnen, erotische Lieder zu schreiben oder zu versenden; da existierten in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts in Spanien kleine romanische Liebeslieder, die arabische Dichter eigenen Sinngedichten als Refrain anfügten, um so ein Widerspiel von volkstümlicher und gelehrter Dichtung zu inszenieren. Die populäre Inspiration reicht jedoch nicht aus, um das Wunder der Dichtung Wilhelms IX. zu erklären. Ihr sozialer Hintergrund war eine neue, sich entfaltende höfische Zivilisation, in der nicht mehr der epische Held, sondern das lyrische Ich und mit ihm die Frau im Zentrum von Interesse und Verehrung standen. Ein aristokratisches Publikum sollte mit dem neuen Frauenlob angesprochen werden, nicht der gemeine Mann, der sich an Schlüpfrigkeiten oder übertriebenen männlichen Machtfantasien ergötzt. Entsprechend war Wilhelm bei aller Zwiegesichtigkeit gebildet, er kannte neben Ovid gewiss auch die mittellateinische Vagantenlyrik seiner Zeit, an die der anstößige Teil seiner Gedichte erinnert, und wahrscheinlich ebenso die kunstvollen geistlichen Gesänge aus der Abtei Saint-Martial in Limoges, die die Struktur einiger seiner stets musikalisch begleiteten Texte zu reflektieren scheinen.Der Einzelstimme Wilhelms gesellten sich in wenigen Jahrzehnten viele neue, anders klingende bei, etwa 450 in den folgenden zwei Jahrhunderten, von denen rund 100 durch ihre »Vidas«, ihre Fiktives und Authentisches vermischenden Biographien, genauer bekannt sind. Aber auch aus den Erklärungen zu einzelnen Gedichten, den »Razos«, sind Informationen über die Lebensumstände der Troubadours auf uns gekommen. Das Spektrum der Namen reicht von dem Moralisten Marcabru, dem Sänger der »fernen Liebe« Jaufré Rudel, dem lyrischen Bernart de Ventadour und dem kriegerischen Bertran de Born bis hin zu dem großen Satiriker Peire Cardenal. Es umfasst aber auch die Namen von etwa 20 Dichterinnen (provenzalisch »trobairitz«), vollendete wie Na Castelloza oder die Comtessa de Dia, einfachere wie Azalais de Porcairagues oder Clara d'Anduza. Sie alle pflegten viele poetische Gattungen, Streitgedichte und Klagelieder, politische und sozialkritische Gesänge, populär inspirierte Tage- und Hirtenlieder. Aber im Zentrum der Troubadourdichtung steht die »Canso« (Kanzone), das große höfische Liebeslied, das in immer neuen Variationen das eigentliche Paradox der Troubadourliebe benennt und beschreibt: Der Troubadour liebt, weil die Liebe zu einer anderen Frau ihn erhebt und veredelt. Diese Liebe lebt aus der Verzweiflung über ihre Unerfüllbarkeit, die fehlende Gegenliebe erhöht durch das Leiden, das sie vermittelt, ihre äußerste geistige Wirkkraft.Die Troubadourlyrik, die uns in teilweise kostbar ausgemalten Liebhaberhandschriften überliefert ist, endete mit der Zerstörung der südfranzösischen Kultur in den Albigenserkriegen. Aber diese Dichtung wirkte weiter und inspirierte das Bildreservoir der europäischen Lyrik der folgenden Jahrhunderte von Deutschland bis Portugal, von England bis Italien mit vier großen Metaphernbereichen: Liebe als Kampf, als Feuer, als Vasallendienst und als Martyrium. Es waren die Trouvères in Nordfrankreich, die als erste in den Gesang der Südfranzosen einstimmten.Große Frauengestalten wie - indirekt - die Enkelin Wilhelms IX., Eleonore von Aquitanien, und deren Tochter Marie de Champagne, an deren Hof sich nachweislich eine Reihe der bekannten Dichter aufhielt, scheinen dafür verantwortlich zu sein, dass nordfranzösische Dichter um 1160 vor allen Dingen die hohe Form des höfischen Liebesliedes aus der Provence übernahmen, dessen Strenge und erlesene Kunstfertigkeit sie allerdings weder musikalisch noch textlich in gleicher Weise meistern konnten oder wollten wie die Troubadours. Und anders auch als ihre südfranzösischen Vorbilder pflegten die Trouvères volkstümlich inspirierte Gattungen intensiv, so etwa von Frauen beim Weben gesungene balladenartige Lieder um Hoffnung, Trauer und Enttäuschung, um Aufbegehren und sinnliche Erfüllung, so wiederum Tage- und Hirtenlieder.Wie die Troubadours waren auch die Trouvères von unterschiedlicher sozialer Herkunft. Hohen Aristokraten wie Richard Löwenherz, der Chastelain de Coucy, Conon de Béthune oder Thibaut de Champagne stehen besonders vom 13. Jahrhundert an immer mehr Bürger als Dichter gegenüber, wie Jean Erart, Jehan Bretel, Jean Bodel oder Adam de la Halle, der auch als Komponist hohes Ansehen genoss. Seit etwa 1240 organisierten sie sich in Dichterzünften, zuerst in Arras, später in Amiens, Valenciennes und Lille.Von den Dichtungen der ersten Trouvères haben wir nur fragmentarisch Nachricht. Zu ihnen gehört Chrétien de Troyes, aber auch Guiot de Provins und Hélinand de Froidmont, deren Schicksale sich ein wenig darin gleichen, dass sie nach einer gefeierten Laufbahn als höfische Sänger Ordensleute wurden und sich in großen moralisch-didaktischen Schriften an ihre Zeitgenossen wandten, um ihnen die Vergänglichkeit des Irdischen eindringlich vor Augen zu führen.Mit der neuen, bürgerlich-städtisch geprägten Kultur des 13. Jahrhunderts verlor die Lyrik allmählich ihre zentrale Stellung im System der altfranzösischen Literatur. Prosafassungen älterer fiktionaler Texte in gebundener Sprache, Geschichtsschreibung, Laienenzyklopädien und auch eine anwachsende Bemühung um das Schauspiel kennzeichnen einen veränderten Umgang mit der Literatur, den zunehmend der Leser, nicht mehr der Hörer bestimmte. In Italien aber fiel die Lyrik der Provence auf einen so fruchtbaren Boden, dass sie die höchste Verfeinerung des mittelalterlichen Frauenlobes hervorbrachte.Prof. Dr. Wolf-Dieter LangeFranzösische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.Hausmann, Frank-Rutger: Französisches Mittelalter. Stuttgart u. a. 1996.
Universal-Lexikon. 2012.